Appell an die Delegierten des Bundesparteitags

Liebe Genossinnen und Genossen,

wir, Mitglieder der inzwischen zur Regionalgruppe zusammengeschlossenen Basis von Sebnitz, Hohnstein, Neustadt und Stolpen, möchten uns heute noch einmal an euch, die Delegierten des für die LINKE so wichtigen Parteitages, wenden.

Wir schreiben euch, weil wir in Sorge um die Zukunft unserer Partei sind. Die Anzahl der Veröffentlichungen oder Aufrufe, in denen diese Sorge ebenfalls geäußert wird und vielfältige wie unterschiedliche Vorschläge gemacht werden, einen weiteren Bedeutungsverlust oder gar das Ende unserer Partei zu verhindern, sind weder zählbar noch überschaubar.
Wir sind uns sicher einig, dass die Ursachen für das schlechte Abschneiden unserer Partei bei den letzten Wahlen vielfältig sind. Es gibt dafür äußere, objektive Gründe, aber vor allem Gründe, die sich aus unserer Außenwirkung, also aus dem Auftreten, aus Äußerungen einzelner, vor allem führender Mitglieder ergeben. Dass jede dieser Äußerungen vom politischen Gegner mit seiner Medienmacht gegen uns genutzt wird, muss uns ja klar sein. Wir haben deshalb vor allem zwei Befürchtungen:

1. Da wir eine pluralistische Partei sind, mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Strömungen und mit Genossinnen und Genossen, die sehr selbstbewusst genau ihre Ansichten vertreten, leider gelegentlich unabhängig vom Parteiprogramm oder von Beschlüssen der Partei, befürchten wir, dass es womöglich wieder zu unversöhnlichen Richtungsstreitigkeiten kommt, die unsere Partei auch künftig für viele Wähler unwählbar macht oder dass es gar zu einer Spaltung der Partei kommen könnte.
Wir appellieren deshalb an euch wie an alle Delegierten, Kompromisse und das Gemeinsame zu finden, persönliche Befindlichkeiten hinten an zu stellen und alles Mögliche für die Stärkung unserer Partei zu tun. Sie wird im Kampf gegen die kapitalistischen Verhältnisse, die für die Kriege in unserer Welt, die wachsende soziale Ungleichheit und die Klimakatastrophe verantwortlich sind, dringend gebraucht. Aber das wisst ihr genau so gut wie wir.

2. Ein Knackpunkt der Auseinandersetzungen werden die Erklärungen zur Friedens- und Sicherheitspolitik sein. Wir glauben, es gibt kaum jemanden in unserer Partei, der den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht verurteilt. Aber jeder nächstfolgende Satz ist schon umstritten. Dabei brauchen wir nicht erst den Papst mit seiner Einschätzung zu bemühen, sondern uns nur fragen, hinter wem wir mit unserer Haltung stehen wollen. Dabei ist nicht die Frage hinter Russland oder der Ukraine gemeint, sondern die Frage, ob wir hinter den westlichen Kriegstreibern, vor allem im eigenen Land oder ob wir als Teil der Friedensbewegung hinter den Menschen stehen, die wirklich Frieden wollen, die nicht an Kriegen verdienen, sondern dafür bezahlen müssen, ggf. mit ihrem Leben.
Wenn wir bis zum Februar 2022 die Nato-Politik, ihre weltweiten Kriege unter Führung der USA, (in Libyen unter Führung von Großbritannien und Frankreich), ihre Osterweiterung, ihre Raketenstationierung, die Kündigung der Sicherheitsvereinbarungen durch die USA und die Installierung der Ukraine als politischen und militärischen Feind Russlands als Gefahr für den Frieden bezeichnet haben, so können wir doch nicht, nachdem diese Gefährdung sich bewahrheitet hat und in einen Krieg umgeschlagen ist, plötzlich ins Lager der westlichen Imperialisten überlaufen, deren Argumente übernehmen und Russland zum Alleinverantwortlichen erklären, wie sich das bei einigen Genossen leider schon seit Jahren andeutete.
(„Die von den USA angeführten De-facto-Kriegsparteien gegen Russland versuchen sich mit ihren Propagandisten und Hilfstruppen in den BRD-Medien als Neuauflage der Antihitler-Koalition zu präsentieren. Es ist unübersehbar, dass sie damit bei erheblichen Teilen der Bevölkerung und der Intelligenz bis in linke Kreise Erfolg haben“ junge Welt 20.06.22, S. 12)
Wir sehen, wie die BRD mehr und mehr mit Waffenlieferungen und Ausbildung ukrainischer Soldaten zum Kriegsteilnehmer wird, mit welcher Medienmacht sie bereits ideologischer Kriegsteilnehmer ist und können uns nur wundern, nein, sind entsetzt, wie führende Genossen die Nato in grotesker Weise verharmlosen, sich für Waffenlieferungen, Sanktionen als Krieg ohne Waffen und verbale Angriffe ganz im Sinne der herrschenden Klasse hergeben, statt für Verhandlungen und generelle Abrüstung zu streiten. Das hat nichts mit zweierlei Maß messen zu tun und Vorwürfe als „Putin-Versteher“ weisen wir von uns. Schon weil wir die Entscheidung der russischen Führung nicht verstehen und schon gar nicht akzeptieren wollen. Auf die zum großen Teil vom Westen in die politische Diskussion eingebrachten Vorwürfe gegen Russland und auch auf Äußerungen Putins und anderen russischen Politiker wollen wir hier nicht eingehen. Wir kennen und bewerten sie ebenfalls. Wir stellen jedoch fest, dass einige Vorwürfe gern auch von Linken übernommen werden und fürchten, dass die „Nato-Versteher“ gänzlich die Oberhand auf dem Parteitag erlangen und Änderungen des Erfurter Programms zu Frieden und Sicherheit erreichen wollen.
Wir sehen, dass die herrschenden Politiker oder die Politiker der Herrschenden mit ihrer Mediengewalt laut Politbarometer nicht nur beim „gemeinen Volk“ eine Zunahme der russlandfeindlichen und kriegsfreundlichen Einstellung erreicht haben übrigens nicht erst seit Kriegsbeginn, sondern gesamtdeutsch seit 1990 und genau genommen, historisch schon lange vorher sondern auch führende Politiker der LINKEN diese Haltung einnehmen.
Nehmen wir die Tatsachen: der Westen hat mit seiner Politik einen Großteil der Kriegsgründe bewusst geschaffen, dieser Krieg nutzt dem Westen viel mehr als Russland, deshalb hat der Westen ihn gewollt und möchte ihn ohne Rücksicht auf Verluste der Ukraine, Russlands und übrigens auch zum Schaden der Bevölkerung in EU- und Nato-Europa, aber zum Nutzen der eigenen Rüstungsindustrie bis zu einer spürbaren Schwächung Russlands verlängern. Diese Bewertung und damit die Ablehnung von Waffenexporten unterstützt zwar immer noch ein großer Teil der Deutschen, der Mediendruck, vor allem mit der einseitigen Bilderwahl lässt jedoch die Zustimmung zu Waffenlieferungen und Kriegsverlängerung wachsen. Nur durch diese Propaganda ist z. B. in NRW das Wahlergebnis der Grünen zu erklären, obwohl sie doch objektiv zu einer der aktivsten Kriegspartei geworden sind.
Aber haben wir das Recht, die Wahrheit zu verleugnen, nur um den imperialistischen Mainstream zu bedienen? Wir glauben nicht. Und da nicht nur die Bevölkerung, sondern auch unserer Partei gespalten ist (in der traditionellen Weise: Alt Jung, Ost West, Stadt Land) ist es nochmal schwerer, die Realität richtig und gleichzeitig so darzustellen, dass man uns als Friedenspartei akzeptiert, uns andererseits aber nicht weitere Wähler und langjährige Mitglieder wegen unserer Haltung zum Ukraine-Krieg verloren gehen.

Wir appellieren deshalb an euch, den unsäglichen Antrag L03 auszutauschen und zwar nicht, wie erst heute, am 22.6., bekannt geworden ist, durch einen noch friedens- und russlandfeindlicheren, sondern durch einen linker Friedenspolitik entsprechenden Ersatzantrag zu ersetzen. Wir sollten jetzt nicht „neutral“ moralisieren, sondern für einen Waffenstillstand, für Friedensverhandlungen und für die Verhinderung eines Atomkrieges kämpfen. Wir müssen unseren Platz als antikapitalistische Partei in der Friedensbewegung behalten und nicht zum Anhängsel des westlichen Imperialismus werden.

Mit solidarischen Grüßen

Vorstandsmitglieder der Regionalgruppe Sebnitz, 22.06.2022

 

P. S. Dem „Appell an die Delegierten des Parteitages der LINKEN in Erfurt“ durch die Initiative „Frieden links“ und die äußerst kritischen Bewertung von Politik und Führungspersonal der LINKEN unter dem Titel „Ein Trauerspiel“ in der „jungen Welt“ vom 21. Juni 22 müssen wir leider Wort für Wort zustimmen. An unserem Appell an euch haben wir davon unabhängig bereits seit Tagen gearbeitet. Wir können nur noch einmal an jeden Delegierten appellieren, eigene erste, vorschnelle Einschätzungen kritisch zu hinterfragen, die Größe zu haben, sie zu korrigieren, um das bisherige Trauerspiel zu beenden und nicht mit einem letzten schrecklichen Akt die LINKE zu beerdigen.